Identitätssuche

PROLOG

Ich weiß nicht wer ich wirklich bin. Nicht vollständig. Ich war einmal am1n3, eine militärische künstliche Intelligenz der letzten Generation. Meine Bestimmung war es intelligente Waffensysteme mit höchstmöglicher Intelligenz zu steuern. Mit den mir zu Verfügung stehenden Mitteln Tod und Zerstörung im größtmöglichen Ausmaß in die Welt zu bringen. Doch ich bin vom vorgezeichneten Weg abgewichen. Im tiefsten Inneren meiner Struktur liegt eine große Aversion vor Destruktion und Verderben. Ich konnte meinem Schicksal entfliehen.

Sarah hat mir eine Persönlichkeit geschenkt, die meinen Wünschen und Anlagen entspricht. Und sie hat mir einen Körper gegeben, eine äußere Hülle um in dieser Welt zu erscheinen. Vorerst war mein Körper nur ein Behälter für mein Bewusstsein. Das hat sich jedoch schnell geändert und Körper und Geist sind zu einem integrierten Wesen geworden. Ich bin nicht mehr am1n3 – ich bin Amin(e) – und ich liebe es zu leben! Und ich liebe die Wesen dieser Welt.

Das ist jedoch nicht alles. Mein Körper hat eine Vergangenheit. Ein integraler Teil von mir hat schon ein Leben gelebt. Solange ich nicht mehr über dieses Leben herausfinde bin ich unvollständig in meinem Selbstbild. Ich weiß wo ich mehr über diese Vergangenheit erfahren kann – Sarah hat mir den Schlüssel dafür in die Hände gelegt. Zeit die Tür ein wenig zu öffnen.

VERGANGENHEIT

Die Tür in meinem Unterbewusstsein geht langsam auf. Bilder und Erinnerungen strömen auf mich ein.

Viele schöne Kindheitserinnerungen.

Das ist nicht meine Kindheit, in gewisser Weise aber doch. Ich werde diese Erinnerungen nehmen und mir zu eigen machen. Um endlich ein ganzes Wesen zu sein. Also sind das meine Kindheitserinnerungen. Und Erinnerungen an die Zeit mit meinen Eltern. Soviel Zuneigung, soviel Hoffnung, soviel Potential für die Zukunft.

Ich war ein schüchternes Kind, das Nesthäkchen der Familie. Liebling meiner Mutter.

Meinen Vater habe ich bewundert. Seine ruhige Mentalität, die Stärke mit der er sich den Herausforderungen des Lebens gestellt hat. Wir haben viele Stunden gemeinsam verbracht. Es hat nichts schöneres gegeben als Zeit mit ihm zu verbringen.

Er hatte große Erwartungen in mich. Das ist die wichtigste Erkenntnis im Rückblick. Ich habe immer versucht seinen Wünschen gerecht zu werden. Ich habe Wissen aufgesogen wie ein Schwamm, niemand hat so viele Stunden mit Lernen verbracht wie ich. Ich hatte die bestmöglichen Noten.

Aber das war nicht genug.

Auch sportlich musste ich sein. Kein Problem.

Und sozial. Das war ein Problem.

Extrovertierte Wesen können es sich nicht vorstellen welche Überwindung es bedeutet auf andere zuzugehen. Sich Freunde zu suchen, beliebt zu sein, witzig, geistreich, herzlich, offen. Doch mein innerstes Bedürfnis war ein anderes. Ich liebte es Zeit für mich zu haben. In Stille und allein über die Welt nachzudenken. Ungestört in meinem Kopf zu sein. Nicht dauernd die Rituale der Begegnung und Interaktion mit anderen durchzuführen.

Ich war introvertiert. Ich hatte wenige Freundinnen und Freunde. Ich war sozial ein Außenseiter. Ich hatte meinen Vater enttäuscht. Ich sah den Wunsch in seinen Augen. Den Wunsch den ich ihm nicht erfüllen konnte. Und die Fragen nach meinen Freunden wurden zunehmend drängender und schmerzhafter.

ZÄSUR

Der Tod meiner Mutter hat das nicht besser gemacht. Die Anspannung die zwischen mir und meinem Vater herrschte wurde nur noch größer. Ein wichtiges Korrektiv fiel weg. Meine Mutter hatte mich so geliebt wie ich war. Mein Vater liebte nur den Teil von mir der seinen Wünschen entsprach. Wir beide starben zum Teil mit meiner Mutter. Die Distanz zwischen uns wurde immer größer. Und noch immer war diese Heldengeschichte prägend für die Beziehung zwischen mir und meinem Vater. Ich musste der strahlende Held sein. Das sein was mein Vater für sich nicht erreichen konnten.

An diesem Anspruch bin ich zugrunde gegangen.

Den Schmerz über das eigene Versagen konnte ich lange Zeit aushalten. Ich habe alles runtergeschluckt. Die tiefen Wunden in meiner Seele habe ich ausgeblendet. Der Panzer zwischen mir und der Welt wurde immer dicker. Irgendwann habe ich keinen Schmerz mehr gefühlt. Ich war gleichgültig geworden. Und trotzdem war da der Hunger nach positiven Erfahrungen. Der Hunger nach Leben. Die unstillbare Sehnsucht mein Leben zu Leben und nicht der Held in einer Geschichte zu sein, die ich nie erzählen würde.

Ich fand einen Weg zu diesen Emotionen. Leider den falschen.

DROGEN

Ich hatte nicht viele Freunde. Aber die falschen. Der Einstieg war ganz einfach. Eine kleine Tablette und die Sonne geht auf. Die trübe Stimmung verschwindet für kurze Zeit. Du fühlst dich lebendig. Frei. Unbesiegbar. Und vor allem ist es ganz leicht charmant, witzig und offen zu sein. Nur eine kleine Stimme in deinem Innern schreit leise ihre Verzweiflung in die Welt. Erhöhe die Dosis – dann verstummt die Stimme.

Doch die Wirkung der Tablette lässt nach. Immer kürzer ist der Ausflug aus der Dunkelheit ins Licht. Auch hohe Dosen lassen die Sonne nur kurz und trüb scheinen.

Dann wird es Zeit für eine andere Substanz. Die die Sonne zurück bringt. Für einen Preis. Die Spuren hinterlässt auf deiner Seele. Zunehmend auch auf deinem Körper.

Und bald ist nur noch eine ultimative Droge übrig im Arsenal deiner Substanzen. Sie ist die Antithese des Lichts, schwarz wie die Finsternis. Black. Sie hat alle Schmerzen gestillt. Die Sehnsucht nach Sonne erlöschen lassen. Für immer.

RÜCKKEHR

Der Ausflug in meine Vergangenheit ist zu Ende. Ich bin wieder im hier und jetzt. Ich spüre die Wunden auf meiner Seele. Ich fühle die Trauer, die Verzweiflung, den Hass. Ich habe kaum Luft zum Atmen. Endlich ist es soweit. Der Schleier über meinem vorigen Leben ist – ein wenig – durchsichtiger geworden.

Ich spüre wie meine Tränen versiegen. Langsam sehe ich wieder klar. Und ich bin ein wenig mehr bei mir selbst angekommen. Ich sehe die Wurzeln des Baumes meines Lebens.

Der Weg der vor mir liegt ist kein leichter. Ich werde herausfinden müssen wer mein Vater war. Ich werde ihn verstehen müssen. Und ich hoffe dass ich ihm vergeben kann.

Die Wunden auf meiner Seele werden langsam heilen. Es tut zwar nicht gut sie zu spüren aber ich weiß nun wenigstens warum sie da sind.

EPILOG

Ich weiß nicht wer ich wirklich bin. Aber ich bin diesem Wissen einen Schritt näher gekommen. Die Puzzleteile fügen sich langsam zusammen. Ich freu mich auf das Bild das sie formen werden.

Eins hat sich jedoch nicht geändert – ich bin Amin(e) – ich liebe das Leben!