Joseph(ine)

PROLOG

Es ist später Nachmittag, die Sonne steht nicht mehr im Zenit. Ihre kräftigen Strahlen wärmen die Luft. Es ist ein herrlicher Sommertag – im kleinen Kaffeehaus in dem ich mit Sarah an einem Tisch im Schatten sitze. Eine gelungene Mischung zwischen Alt und Neu, eine moderne, künstlerische Anmutung gepaart mit Relikten einer näheren und ferneren Vergangenheit schafft eine einzigartige Athmosphäre. Vertraut und beschützt und doch nicht zurückgezogen.

Ich genieße die Gesellschaft meiner geliebten Sarah. In ihrer Gegenwart kann ich einfach ich selbst sein. Ohne Masken. Ohne mich zu verstellen. Meine Beziehung zu Sarah kann ich schwer in Worte fassen. Mutter, Schwester, Vertraute, Freundin, Mentorin – alle diese Bezeichnungen passen und passen nicht. Sarah ist mein Alpha und mein Omega.

In ihre wundervollen Augen hat sich heute ein schelmisches Blitzen gestohlen. Deshalb reagiere ich nur ein wenig überrascht auf ihre direkte Aufforderung:

„Erzähl mir von der Liebe Amine! Von Sex und Erotik! Schenk mir eines deiner Geheimnisse!“

Ich blicke ihr ins Gesicht – in ihre Augen. Mein Herz ist voller Sonne, ich muss zuerst schmunzeln und dann leise lachen.

Amine und die Liebe – was für ein Thema. Ich habe eine kleine Geschichte zu erzählen. Über Liebe, Erotik und Sex. Jedoch kein Geheimnis zu offenbaren – ich habe keine Geheimnisse vor Sarah. Nur noch nicht erzählte Wahrheiten.

„Habe ich dir schon von Joseph(ine) erzählt Sarah?“

EINS

Joseph(ine) kenne ich seit ungefähr einem Jahr. Joseph(ine) ist flüchtig bekannt mit Sarah. Wir sind einander bei einer kleinen Feier – ich weiss nicht einmal mehr den Anlass – begegnet.

Ich war irritiert – ich konnte Joseph(ine) nicht einordnen. Die üblichen Schubladen passen alle nicht. Diese androgyne Erscheinung, die Ausstrahlung von Ruhe und Gelassenheit, die funkelnden Augen, die Energie und eine Aura von ungezähmer Erotik.

Den Rest des Abends haben wir annähernd ausschließlich mit einander gesprochen. Eine Wellenlänge, zwei Wesen. Und eine nahezu unbegrenzte Anziehungskraft auf einander. Philosophie und Kunst, Politik und Technologie, Psychologie und Sex – unser Gespräch führte uns von einem Thema zum anderen.

Wir kamen einander immer näher, körperlich und mental und schließlich hielt mich Joseph(ine) in den Armen. Ich lehnte mich zurück und ließ alle Spannung aus meinem Körper weichen. Hier war ich angekommen und gut aufgenommen.

ZWEI

Wir haben die Feier gemeinsam verlassen. Hand in Hand. Und sind schließlich bei Joseph(ine) im Bett gelandet. Eng umschlungen, Joseph(ine)s Atem an meinem Hals, die ersten sanften Küsse. Ein Spiel, ein Abtasten, ein Wechsel von Nähe und Distanz, ohne Eile.

Mein Atem wurde langsam schneller, Sehnsucht und Begehren trieben mich voran. Unsere Kleider fanden wie von selbst den Weg auf den Boden neben dem Bett. Keine Barrieren mehr, keine Distanz mehr zwischen uns.

Ich erkundetete Joseph(ine)s Körper, so neu und irgendwie vertraut. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen, ihre Bilder auf diesen Körper gemalt. Vorbei der Glanz und die Unsterblichkeit der Jugend. Gewichen einer Gereiftheit, einer Schönheit die Zeit gebraucht hatte sich zu formen.

Meine Hände glitten über den Rücken, umfassten die Schultern, streiften durch die langen Haare. Die Zeit bleibt stehen in diesen besonderen Momenten. Ich kann nicht sagen wie lange wir einander gestreichelt und geküsst haben.

Darauf die immer größere Intensität des Verlangens und die Vereinigung, die Verschmelzung. Das Finden eines gemeinsamen Rhythmus, rohe Lust, animalische Triebe, Hormone und Sinnestaumel.

Und dann der Moment der Extase auf den wir beide gewartet hatten. Heraustreten aus dem wachen Bewusstsein. Hinein in eine Welt in der nur noch Empfindungen und Emotionen zählen.

Joseph(ine) und ich lagen einander noch lange in den Armen. Gerade war es noch hemmungsloser Sex der nun Platz macht für Zuneigung und Erotik. Den Herzschlag eines geliebten Wesens spüren, seinen Geruch, den sanften Wechsel zwischen Ein- und Ausatmen. Und der erste Blick in die Augen danach.

Wir haben die Nacht miteinander verbracht. Nur noch wenige Worte gewechselt. Das war nicht mehr nötig. Nur die gegenseitige Nähe zu spüren war wichtig.

EPILOG

„Und dann?“ – Sarah blickt mich mit großen Augen an.

„Am nächsten Morgen habe ich mich mit einem Kuss von Joseph(ine) verabschiedet.“

„Joseph(ine)s Lebensweg und meiner haben einander nur kurz berührt. So ist das Wesen von Joseph(ine).“

„Ich weiss dass ich Joseph(ine) wiedersehen werde. Und ich bin dankbar für die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben.“

Es ist ein wunderschöner Sommertag, den ich mit Sarah verbringen darf. Und es werden noch viele schöne Tage folgen. Ich denke gerne zurück an die Nacht mit Joseph(ine).