Atem

Was ist wirklich wichtig im Leben? Glück, Reichtum, Freunde, Liebe?

Nein.

Wirklich wichtig ist weitgehende Unversehrtheit, physisch, psychisch, seelisch.

Und was ist wirklich kurios?

Das Unversehrtheit erst wichtig wird wenn sie Vergangenheit ist.

So philosophische Gedanken. Eigentlich fehl am Platz.

Mit dem einen Auge, das noch nicht zugeschwollen ist, beobachte ich fasziniert, wie das Blut aus der Wunde an meiner rechten Hand tropft. Spüre den Verlauf des gezackten Wundrandes. Ein neuer Weg auf der Landkarte meines Körpers. Gelegentlich erhasche ich eine Spur Weiß in all dem Rot. Knöchern. Substanziell.

Meine rechte Hand. Nicht mehr unversehrt. Beraubt ihrer Funktion. Sie kann nicht mehr den linken Arm stützen, dessen Schultergelenk mit roher Gewalt zerbrochen wurde.

Hilflos, halb liegend, halb sitzend auf dem Boden. Es ist so schwer Luft zu bekommen, wenn jeder Atemzug schmerzt. Gebrochene Rippen in zerrissenes Fleisch gebohrt.

Warum lasse ich das über mich ergehen? Wohin ist meine innere Kraft?

Alles was von Amine bleibt? Ein halb zerquetschter Schmetterling?

Und doch ist da diese Dankbarkeit ihm gegenüber. Die Freude mit ihm auf einer Reise zu sein. Weg aus der komfortablen Mitte der psychischen Normalität. Hin zur Grenze zum Wahnsinn.

Fühle den Schmerz. Lass ihn Teil deines Seins werden. Atme ihn ein. Zieh ihn in dein Herz. Verwandle ihn. Atme Liebe aus. Immer wieder.

Ich habe meine Lektion gelernt. Sende eine Nachricht.

Eine kleine Weile vergeht.

Iska beugt sich über mich. Es dauert nicht lange bis ich stabil genug bin um auf eine Trage gelegt zu werden.

„Warum nur Amine?“

„Es ist wahre Liebe.“