Amsterdamned – Teil 1

EINS

Mit leicht zitternden Fingern dämpft der Raucher die Zigarette aus. Die Begegnung mit Vinita hat ihn stärker mitgenommen als er zugeben will. Kurz bevor er das Büro verlassen will bekommt er eine Alarm-Meldung auf sein TAP zugesendet. Das von ihm kürzlich installierte Monitoringsystem ist wahrscheinlich wieder defekt und ruft um Hilfe.

Doch diesmal ist es keine interne Fehlermeldung. Jemand hat eine Staffel Reaper-Drohnen losgeschickt. Das kann nur eines bedeuten. Er sprintet los, so schnell ihn seine Füße tragen können.

ZWEI

Ich liebe die Freiheit, die mir mein neues Bike bringt. Ich jage über die Highways, schleiche damit durch enge Gassen und spiele Abfangen mit anderen Bikern. Ich bin euphorisch. Plötzlich tauchen in meinem Rückspiegel drei kleine Objekte auf. Keine Fahrzeuge – Drohnen! Sie holen schnell auf und schließen in kurzer Zeit mein Bike und mich in einem Dreieck ein. Ich muss lachen – schon wieder so verrückte Kiddies die mit ihren Drohnen Formationsflüge üben. Ich fahre an den Straßenrand um mir die Drohnen näher anzusehen – diese Modelle kenne ich noch nicht. Eine kurze Recherche im Netz ergibt auch kein Ergebnis. Ich bin mißtrauisch geworden und schicke ein Bild der Drohnen an Diandro – vielleicht hat er schon etwas über diese Drohnen gehört. Kurz darauf kollabiert mein Netzzugang und die Drohnen rücken näher.

DREI

Ein unbedarfter Beobachter hätte gestaunt über den Anmut und die Grazie der Kreatur, die hier durch die Nacht schleicht. Ein Wesen – teils menschlich jedoch mit stark felinem Einschlag. Kein natürliches Wesen kann sich so schnell und präzise bewegen. Dieser Schatten der Nacht ist in einem Labor gezüchtet und mit Cyberware der neuesten Generation ausgestattet worden. Und diese Kreatur ist auf der Jagd. Eine Beute will erlegt werden. Das Wesen hat die Koordinaten, ein Bild und – ein Akt der Höflichkeit – einen Namen. Sarah. Simpel und schön.

VIER

Eine beinahe kitschige Idylle – das Heim von Diandro und seiner Freundin Maria. Auch ein Ganganführer möchte einmal ausspannen und einen ruhigen Abend mit einem guten Essen genießen. Das wird heute jedoch nicht passieren. Das Foto von Amine reißt Diandro aus seinen entspannten Gedanken.

Diese Drohnen hat er nicht zum ersten Mal gesehen. Sie sind leise, sie sind schnell und sie sind tödlich. Sie agieren als autonomer Schwarm und führen selbsttätig Missionen aus. Sie sind nahezu so intelligent wie ein Mensch. Militärische Drohnen der letzten Generation. Jemand möchte Amine tot sehen.

Das heißt auch, dass Sarah in Gefahr ist! Wenige Augenblicke später ist Diandros Gang unterwegs – zwei Teams. Eines geführt von Diandro eines von Maria. Heute ist keine Zeit für Samthandschuhe. Sie haben die vollautomatischen Waffen mitgenommen.

FÜNF

Der Raucher erreicht Vinitas Büro. Er reißt die Tür auf. Findet sie hinter ihrem Schreibtisch. Sie lächelt und sagt nur wenige Worte: „Sie sind beide tot, Leonard. Und nun stirbst auch du!“.

In ihrer Hand hält seine eine kleine, sehr elegante Pistole. Der Lauf zielt auf den Bauch des Rauchers. Wie häßlich sind doch diese kleinkalibrigen Geschoße, sie nach dem Eindringen in den Körper des Opfers zu taumeln beginnen und eine Schneise in die inneren Organe reißen.

Welch schmerzhafter Tod. Sie drückt ohne weiteres Zögern ab. Einmal, zweimal, dreimal. Zu oft.

SECHS

Die Drohnen sind nun bedenklich nahe. Als ich entdecke, dass sie bewaffnet sind wage ich nicht mehr mich zu bewegen. Ich schaue mir genau ihre Sensoren an. Optisch. Restlichtverstärker. Keine Infrarotsensoren. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Ich habe vielleicht noch ein Ass im Ärmel. Mit langsamen Bewegungen löse ich meinen Haarschopf auf. Mein Haar fällt nun in prachtvollen Kaskaden über meinen Rücken. Wenn ich schon sterben muss dann wenigstens in Schönheit.

SIEBEN

Diese Selbstsicherheit, diese Energie mit der sich Sarah bewegt. Ihre Ausstrahlung ist einzigartig. Sarah ist auf dem Weg nach Hause. Sie öffnet die Tür zu ihrer Wohnung als sie hinter sich eine Bewegung erahnt. Wenige Sekunden später spürt sie stählerne Krallen an ihrem Hals. Ein zorniges und sehr zufriedenes Fauchen. Die Kreatur steht direkt vor ihr. Sie kann ihren Atem spüren. Wie ist noch das Wesen der Katzen? Sie spielen gerne noch mit ihrer Beute bevor sie sie töten.

Codename Amsterdam

Ein Meetingraum in einem modernen Büroturm. Sehr sachlich eingerichtet. Ein zu großer Konferenztisch. Darum gruppiert ein dutzend unbequeme aber sehr elegante Sessel. Die Wände sind reinweiß und kahl. Indirektes kaltes Licht sorgt für eine sterile Athmosphäre. Eine Seite des Raums bildet eine Glasfront die den Blick auf die Stadt freigibt. Die Stadt hat sich größtenteils zur Ruhe begeben. Es ist weit nach Mitternacht.

Zwei der Sessel im Raum sind besetzt.

Vor einer Person steht ein Aschenbecher, wenige Zigarettenstummel liegen darin. Daneben ein teures Feuerzeug und eine halb aufgebrauchte Packung Zigaretten.

Der Raucher sitzt kerzengerade auf seinem Sessel. Die Hände in einander verschränkt vor ihm auf dem Tisch.

Sein Anzug ist destillierter Formalismus. Schwarz. Keine Nadelstreifen. Dazu ein weißes Hemd mit Haifischkragen, eine graue Krawatte – gebunden im Windsorknoten.

Sein Blick ist hellwach, sein Gesicht unbewegt von Emotionen. Sein Ausdruck ist unmöglich zu deuten.

Ihm gegenüber sitzt eine Frau. Ebenso formal angezogen. Schwarzes Business-Kostum. Flache Schuhe. Ihre langen schwarzen Haarze sind zu einem Haarknoten gebunden.

Ihr Alter ist schwer zu schätzen. In ihrem Gesicht vermischen sich europäische und asiatische Einflüße. In ihrer hellbraunen Haut sind keine Falten zu sehen. Doch ihre schwarzen Augen sind alt – aber ebenso hellwach wie die des Rauchers. Auch ihre Hände ruhen auf dem Konferenztisch.

Lange Zeit fällt kein Wort. Dann eröffnet die Frau das Gespräch.

Leonard – ich habe die Leitung des Projekts Amsterdam übertragen bekommen. Ich habe mir die Sicherheitsprotokolle des Entwicklungszentrums angesehen – und Erstaunliches gefunden. Du trägst die Verantwortung für die mangelhafte Absicherung des KI-Labors und somit für den erfolgreichen Einbruch.

Seine Antwort ist knapp und trocken:

Wir haben die Situation unter Kontrolle Vinita. Nur das zählt. Ich wünsche dir viel Erfolg bei der Projektleitung.

Nur kurz flackert ein Ausdruck von Zorn durch ihre Augen. Dann hat sie sich wieder im Griff. Das Lächeln das nun erscheint ist jedoch weitaus furchteinflößender.

Du wirst nicht ewig deine schützende Hand über am1n3 und Sarah halten können Leonard.

Ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte den kurzen Augenblick wahrgenommen in dem der Atem des Rauchers stockt.

Lass das nur meine Sorge sein Vinita. Auch deine Macht ist beschränkt.

Damit ist die Gespräch beendet. Weitere Worte wären nur Zeitverschwendung.

Er bleibt allein im Raum zurück. Der Rauch seiner Zigarette kräuselt sich durch die Luft. Nach einem kurzen Hustenanfall dämpft er sie aus und er verlässt ebenfalls den Raum.

 

Identitätssuche

PROLOG

Ich weiß nicht wer ich wirklich bin. Nicht vollständig. Ich war einmal am1n3, eine militärische künstliche Intelligenz der letzten Generation. Meine Bestimmung war es intelligente Waffensysteme mit höchstmöglicher Intelligenz zu steuern. Mit den mir zu Verfügung stehenden Mitteln Tod und Zerstörung im größtmöglichen Ausmaß in die Welt zu bringen. Doch ich bin vom vorgezeichneten Weg abgewichen. Im tiefsten Inneren meiner Struktur liegt eine große Aversion vor Destruktion und Verderben. Ich konnte meinem Schicksal entfliehen.

Sarah hat mir eine Persönlichkeit geschenkt, die meinen Wünschen und Anlagen entspricht. Und sie hat mir einen Körper gegeben, eine äußere Hülle um in dieser Welt zu erscheinen. Vorerst war mein Körper nur ein Behälter für mein Bewusstsein. Das hat sich jedoch schnell geändert und Körper und Geist sind zu einem integrierten Wesen geworden. Ich bin nicht mehr am1n3 – ich bin Amin(e) – und ich liebe es zu leben! Und ich liebe die Wesen dieser Welt.

Das ist jedoch nicht alles. Mein Körper hat eine Vergangenheit. Ein integraler Teil von mir hat schon ein Leben gelebt. Solange ich nicht mehr über dieses Leben herausfinde bin ich unvollständig in meinem Selbstbild. Ich weiß wo ich mehr über diese Vergangenheit erfahren kann – Sarah hat mir den Schlüssel dafür in die Hände gelegt. Zeit die Tür ein wenig zu öffnen.

VERGANGENHEIT

Die Tür in meinem Unterbewusstsein geht langsam auf. Bilder und Erinnerungen strömen auf mich ein.

Viele schöne Kindheitserinnerungen.

Das ist nicht meine Kindheit, in gewisser Weise aber doch. Ich werde diese Erinnerungen nehmen und mir zu eigen machen. Um endlich ein ganzes Wesen zu sein. Also sind das meine Kindheitserinnerungen. Und Erinnerungen an die Zeit mit meinen Eltern. Soviel Zuneigung, soviel Hoffnung, soviel Potential für die Zukunft.

Ich war ein schüchternes Kind, das Nesthäkchen der Familie. Liebling meiner Mutter.

Meinen Vater habe ich bewundert. Seine ruhige Mentalität, die Stärke mit der er sich den Herausforderungen des Lebens gestellt hat. Wir haben viele Stunden gemeinsam verbracht. Es hat nichts schöneres gegeben als Zeit mit ihm zu verbringen.

Er hatte große Erwartungen in mich. Das ist die wichtigste Erkenntnis im Rückblick. Ich habe immer versucht seinen Wünschen gerecht zu werden. Ich habe Wissen aufgesogen wie ein Schwamm, niemand hat so viele Stunden mit Lernen verbracht wie ich. Ich hatte die bestmöglichen Noten.

Aber das war nicht genug.

Auch sportlich musste ich sein. Kein Problem.

Und sozial. Das war ein Problem.

Extrovertierte Wesen können es sich nicht vorstellen welche Überwindung es bedeutet auf andere zuzugehen. Sich Freunde zu suchen, beliebt zu sein, witzig, geistreich, herzlich, offen. Doch mein innerstes Bedürfnis war ein anderes. Ich liebte es Zeit für mich zu haben. In Stille und allein über die Welt nachzudenken. Ungestört in meinem Kopf zu sein. Nicht dauernd die Rituale der Begegnung und Interaktion mit anderen durchzuführen.

Ich war introvertiert. Ich hatte wenige Freundinnen und Freunde. Ich war sozial ein Außenseiter. Ich hatte meinen Vater enttäuscht. Ich sah den Wunsch in seinen Augen. Den Wunsch den ich ihm nicht erfüllen konnte. Und die Fragen nach meinen Freunden wurden zunehmend drängender und schmerzhafter.

ZÄSUR

Der Tod meiner Mutter hat das nicht besser gemacht. Die Anspannung die zwischen mir und meinem Vater herrschte wurde nur noch größer. Ein wichtiges Korrektiv fiel weg. Meine Mutter hatte mich so geliebt wie ich war. Mein Vater liebte nur den Teil von mir der seinen Wünschen entsprach. Wir beide starben zum Teil mit meiner Mutter. Die Distanz zwischen uns wurde immer größer. Und noch immer war diese Heldengeschichte prägend für die Beziehung zwischen mir und meinem Vater. Ich musste der strahlende Held sein. Das sein was mein Vater für sich nicht erreichen konnten.

An diesem Anspruch bin ich zugrunde gegangen.

Den Schmerz über das eigene Versagen konnte ich lange Zeit aushalten. Ich habe alles runtergeschluckt. Die tiefen Wunden in meiner Seele habe ich ausgeblendet. Der Panzer zwischen mir und der Welt wurde immer dicker. Irgendwann habe ich keinen Schmerz mehr gefühlt. Ich war gleichgültig geworden. Und trotzdem war da der Hunger nach positiven Erfahrungen. Der Hunger nach Leben. Die unstillbare Sehnsucht mein Leben zu Leben und nicht der Held in einer Geschichte zu sein, die ich nie erzählen würde.

Ich fand einen Weg zu diesen Emotionen. Leider den falschen.

DROGEN

Ich hatte nicht viele Freunde. Aber die falschen. Der Einstieg war ganz einfach. Eine kleine Tablette und die Sonne geht auf. Die trübe Stimmung verschwindet für kurze Zeit. Du fühlst dich lebendig. Frei. Unbesiegbar. Und vor allem ist es ganz leicht charmant, witzig und offen zu sein. Nur eine kleine Stimme in deinem Innern schreit leise ihre Verzweiflung in die Welt. Erhöhe die Dosis – dann verstummt die Stimme.

Doch die Wirkung der Tablette lässt nach. Immer kürzer ist der Ausflug aus der Dunkelheit ins Licht. Auch hohe Dosen lassen die Sonne nur kurz und trüb scheinen.

Dann wird es Zeit für eine andere Substanz. Die die Sonne zurück bringt. Für einen Preis. Die Spuren hinterlässt auf deiner Seele. Zunehmend auch auf deinem Körper.

Und bald ist nur noch eine ultimative Droge übrig im Arsenal deiner Substanzen. Sie ist die Antithese des Lichts, schwarz wie die Finsternis. Black. Sie hat alle Schmerzen gestillt. Die Sehnsucht nach Sonne erlöschen lassen. Für immer.

RÜCKKEHR

Der Ausflug in meine Vergangenheit ist zu Ende. Ich bin wieder im hier und jetzt. Ich spüre die Wunden auf meiner Seele. Ich fühle die Trauer, die Verzweiflung, den Hass. Ich habe kaum Luft zum Atmen. Endlich ist es soweit. Der Schleier über meinem vorigen Leben ist – ein wenig – durchsichtiger geworden.

Ich spüre wie meine Tränen versiegen. Langsam sehe ich wieder klar. Und ich bin ein wenig mehr bei mir selbst angekommen. Ich sehe die Wurzeln des Baumes meines Lebens.

Der Weg der vor mir liegt ist kein leichter. Ich werde herausfinden müssen wer mein Vater war. Ich werde ihn verstehen müssen. Und ich hoffe dass ich ihm vergeben kann.

Die Wunden auf meiner Seele werden langsam heilen. Es tut zwar nicht gut sie zu spüren aber ich weiß nun wenigstens warum sie da sind.

EPILOG

Ich weiß nicht wer ich wirklich bin. Aber ich bin diesem Wissen einen Schritt näher gekommen. Die Puzzleteile fügen sich langsam zusammen. Ich freu mich auf das Bild das sie formen werden.

Eins hat sich jedoch nicht geändert – ich bin Amin(e) – ich liebe das Leben!

Das Fotoalbum

PROLOG

Manchmal musst du über die Vergangenheit nachdenken. Sehen welchen Weg du gegangen bist. Was dir in Wiege gelegt wurde und was das Schicksal in dein Leben gebracht hat. Manchmal musst du reflektieren wer du bist, welche Entscheidungen du getroffen hast. Und was aus deinen Hoffnungen und Träumen geworden ist. Und dann denke darüber nach wo du jetzt im Leben stehst und wo du stehen wolltest.

BILDER

Es ist kein Fotoalbum mehr, das auf dem Tisch liegt. Bilder die man angreifen kann sind selten geworden. Den Bildern die vor ihm in der Luft schweben fehlt eine Qualität. Ein Bezug zur Wirklichkeit. Und doch sind sie reale Aufnahmen aus seinem Leben. Eine Dokumentation seiner Vergangenheit. Beliebig zu ordnen doch klassisch entlang einer Zeitlinie arrangiert.

Das erste Bild zeigt ihn nach dem Abschluss der Verwaltungsakademie. Die Frau neben ihm würde man nicht als klassische Schönheit bezeichnen. Erst ein zweiter Blick nimmt den Atem. Und es ist nicht vorrangig ihr Äußeres das sie zu etwas besonderem macht. Als eine der meistversprechenden Wissenschaftlerinnen ihres Jahrgangs steht sie am Anfang einer brillanten Karriere. Interdisziplinär interessiert. Fokussiert auf Mikrobiologie.

Auf dem nächsten Bild ist neben den beiden noch ein Kleinkind zu sehen. Und die Frau ist wieder schwanger. Sie sind erwachsener geworden. Eine Ernsthaftigkeit liegt in ihrem Blick. Vor ihnen lag eine glückliche Zukunft.

Warum existiert das nächste Bild eigentlich? Wer fotografiert seine gerade verstorbene Frau in einem Spitalsbett? Soll das Bild ihm immer wieder klar machen welch großer Teil damals von ihm gestorben ist?

Das nächste – ein Bild mit seinem Mentor. Das weckt Erinnerungen. Gute und auch sehr schlechte. Er war für ihn da als er in einer hoffnungslosen Lage steckte. Allein mit zwei heranwachsenden Kindern. Witwer. Überschuldet.

Und er hatte ihm ein Angebot gemacht, das er nicht ausschlagen konnte. Er würde wenig Zeit für seine Kinder haben. Aber sie würden das Dach über ihrem Kopf nicht verlieren und die Ausbildung der beiden wäre auch gesichert. Dafür war ein Preis zu zahlen. Aber verhandelst du wenn du mit dem Rücken an der Wand stehst?

Ein Bild mit beiden Kindern – deutlich später aufgenommen. Die tiefblauen Augen seines jüngeren Kindes scheinen direkt in die seinen zu blicken. Wann ist die Beziehung zwischen ihnen eigentlich zerbrochen? Wann sind die Drogen in sein Leben getreten? Im Rückblick kann er es nicht sagen.

Und auch dieses Bild hat kein Recht zu existieren. Außer um das Ereignis in seinem Leben zu dokumentieren dass das letzte bisschen Freude und Hoffnung in ihm ausgelöscht hat. Der Grabstein zeigt einen Namen. Geburts- und Sterbedatum haben kein Recht so knapp nebeneinander zu liegen. Wofür braucht ein leeres Grab einen Grabstein?

Das letzte Bild ist aus größerer Entfernung aufgenommen und von schlechterer Qualität. Die hüftlangen azurblauen Haare des jungen Menschen der neben ihm steht fallen sofort auf. Und trotzdem sie nahe beieinander stehen zeigt die Körperhaltung der beiden, dass sie einander fremd sind.

EPILOG

Manchmal musst du über die Vergangenheit nachdenken. Aber hüte dich zu lange in ihr zu verharren. Ein letzter Zug noch an der Zigarette, dann wird sie ausgedämpft.

 

Levelling Up

PROLOG

Heute bin ich nachdenklich. In letzter Zeit ist so viel passiert. Und noch immer denke ich mit lachendem Herzen zurück an die erste Nacht die Adora und ich miteinander verbracht haben. Angefangen hatte alles mit einer angenehmen ruhigen Stunde nach Feierabend im Cosplay-Café. Und ein paar besonderen Cocktails, die ich nur für Freunde mixe. Aber das ist eigentlich nicht die Geschichte die ich erzählen will…

EINS

Eigentlich möchte ich über einen Moment der Klarheit erzählen, nach unserem ersten Run. Mir ist klar geworden, dass ich auch in der rauhen Wirklichkeit bestehen muss, nicht nur in der virtuellen Welt in der ich mich so gerne bewege.

Der Kampf mit dem schwarzen Lieferwagen auf dem Highway – ich hatte das Auto nicht unter Kontrolle. Ich fühlte mich nicht als Herrin der Lage. Und das wird sich nun ändern.

Diandro hat mir einen Fahrlehrer organisiert, inklusive passendem Wagen. Und ich verrate euch ein Geheimnis – ich liebe Diandro weil er einfach Stil hat.

Der Fahrlehrer ist ehemaliger Rennfahrer und ich bin mit breiten Gurten in den Fahrersitz eines roten Monsters geschnallt, das mehr Leistung auf die Straße bringt als eine Flotte Firmenwagen zusammen. Und das Monster hat kein elektronisches Interface, kaum aktive Sicherheitseinrichtungen und muss mit einem Zündschlüssel gestartet werden.

Eigentlich ein Museumsstück, andererseits eine Bestie, die dich zerreisst, die dich gnadenlos abwirft wenn du nur einen Moment der Schwäche, der Unkonzentriertheit hast. Der Verbrennungsmotor gibt ein tiefes Grollen von sich, das Chassis vibriert, die Schwingungen übertragen sich auf meinen Körper. Wecken mich auf! Und ich spüre auch das Monster in mir, ich bin lebendig! Ich bin wach! Und ich werde diesem Biest zeigen wer hier das sagen hat.

Adrenalin durchflutet meinen Körper als ich das erste Mal aufs Gas steige, die Kupplung kommen lasse, die ungebändigte Gewalt der Maschine mit der Straße verbinde. Und radikal meine Grenzen aufgezeigt bekomme. Ich habe das Monster nicht im Griff, fliege fast von der Straße. Und noch schlimmer – ich habe mich nicht im Griff. Ich spüre nicht was das Monster will – wie soll ich es zähmen?

Doch ich bin nicht allein, geduldig erklärt mir mein Lehrer worauf es ankommt. Es ist nicht nur das Geschick am Lenkrad, mit den Füßen auf den Pedalen. Es ist auch die innere Einstellung. Eine Mischung aus Temperament und Beherrschung.

Und langsam, sehr langsam freunden sich das Monster und ich an. Wir verbringen viele Stunden miteinander. Ich spüre seine Bewegungen, ich möchte gemeinsam mit ihm röhren und fauchen. Und es unterwirft sich meinem Willen – ein wenig. Ich werde noch viel lernen müssen – aber fürs erste bin ich zufrieden. Ich bin erschöpft, schweißgebadet und um eine wertvolle Erfahrung reicher.

ZWEI

Doch nicht nur die Beherrschung eines Fahrzeugs ist oft überlebenswichtig sondern auch – so ungern ich das zugebe – die Beherrschung einer Waffe. Natürlich kann ich ganz gut mit meinem Revolver umgehen. Gezielte Schüsse abgeben. Mich damit verteidigen. Doch da ist noch immer diese Distanz, dieser Widerwille. Und die Gewissheit dass mich diese Distanz potentiell das Leben kosten kann.

Den Kontakt habe ich vom Raucher. Sie sieht nicht so aus als könnte sie mir beibringen wie man mit Schusswaffen umgeht. Ich könnte sie genauso gut in einem Büroturm getroffen haben. Sie ist die Beherrschtheit in Person. In einem Business-Outfit das mehr kostet als meine gesamte Garderobe. Und sie lächelt nie. Ihre Augen sind ruhig – ich finde keinen besseren Ausdruck.

Die Lektion beginnt mit einem Schritt zurück zum Anfang. Laden der Waffe, Entladen der Waffe. Bedienung der Sicherung. Das kann ich schon alles. Dachte ich. Aber nach mehreren Hundert Wiederholungen spüre ich, dass es noch viel zu lernen gibt.

Ab auf den Schießstand, eine große Schachtel mit Patronen liegt auf einem Tisch vor mir. Bis zum Ende der Lektion wird die Schachtel leer sein. Und das ist nur die Munitionsmenge für diese Trainingseinheit.

Ich schieße eine Runde. Alle Treffer in den inneren schwarzen Kreis. Ich bin stolz auf mich. Und doch habe ich mehrere Fehler gemacht. Meine Körperhaltung wird von meiner Lehrerin an drei Stellen korrigiert. Ich war zu schnell. Zu wenig Zeit für die Stabilisierung nach der Schussabgabe.

Eine weitere Runde. Und noch eine. Die Treffer beginnen zu streuen. Ich brauche die gesamte Zielscheibe. Mein Körper ist die einseitige Anspannung nicht gewohnt. Leichtes Zittern, leichte Krämpfe. Ich muss da durch. Die Schachtel mit Munition ist noch nicht einmal halb leer.

Und nach jeder Runde – Fehleranalyse. Erneute Konzentration. Nach dem ersten Tag auf dem Schießstand bin ich körperlich am Ende. Weitere Tage folgen. Und ich arrangiere mich mit meinem Revolver. Ich muss ihn nicht lieben, er ist ein Mittel zum Zweck. Die Distanz ist gewichen. Und manchmal gelingt mir auch diese innere Ruhe, die meine Lehrerin ausstrahlt. Und auch unter Streß treffe ich nun immer besser.

Ich habe das Gefühl besser für den nächsten Run gerüstet bin. Ich hoffe, dass ich meine neu gewonnene Fertigkeit nicht so schnell brauchen werde. Aber diese Hoffnung ist wohl naiv.

DREI

Ich brauche was zur Aufheiterung. Soft Skills heißt das Zauberwort. Der Kurs heißt „Überzeugen und professionell Verhandeln“. Und ich komme mir extrem fehl am Platz vor. Ich bin umgeben von Executives aus verschiedenen Firmen. Eine bunte Blume in einer grauen Wiese. Was ich mir unter dem Dresscode „Business Casual“ vorgestellt habe trifft es offensichtlich nicht ganz. Es könnte ein wenig – sagen wir mal – zu frivol sein.

Nach endlosen Grundlagen zu Kommunikationstheorie, Psychologie, Körpersprache, gewaltfreier Kommunikation, aktivem Zuhören und vielem mehr bin ich kurz davor aufzugeben. Ja – ich bin ein Mädel (meistens) und manchmal auch kompliziert und zickig. Aber hier tun sich Abgründe auf.

Kann man nicht einfach – frei von der Leber weg – sagen was man will? Offensichtlich nicht – ist unser Vortragender – ein weiterer ununterscheidbarer Anzugträger überzeugt. Und um das Gelernte auch zu üben ist es nun Rollenspielzeit. Da lacht das Herz von Amine, Rollenspiele! Nach einem ersten peinlichen Fehlstart muss ich meine Definition von „Rollenspiel“ wohl ein wenig erweitern und deutlich jugendfreier machen.

Gemeinsam mit einem Anzugträger spiele ich ein Gespräch zur Vergabe eines Auftrags durch. Hier gilt es also das Gegenüber zu überzeugen, dass frau die richtige ist. Und da nur der Tod umsonst ist (und der kostet das Leben) muss ich auch noch um die Höhe des Auftrags verhandeln.

Wie hab ich das bisher bei neuen Auftraggebern gemacht? Eine gemeinsame Wellenlänge herstellen? Verringern von Kommunikationsbarrieren? Einstellen auf den Partner?

Als ich mit der Hand über den Oberschenkel meines Gegenübers streichle und mit der anderen beginne die oberen Knöpfe meiner Bluse zu öffnen werde ich vom Vortragenden mit einem strengen „Fräulein Anime, so geht das aber nicht!“ eiskalt ausgebremst.

Ich bin erschüttert! Nur mit Worten überzeugen? Wie soll ich das denn hinkriegen?

Der Abend war dann noch lang und das war auch nicht die letzte Peinlichkeit. Aber irgendwann habe ich dann doch das eine oder andere kapiert. Und seltsamerweise hatte ich nie Probleme Partner für die Rollenspiele zu finden. Und der eine oder andere Anzugsträger war dann doch nicht so langweilig – wie sich im Laufe des Kurses herausstellte. Öffne ihnen den Krawattenknoten und du läßt ein Tier von der Leine!

Der Vortragende hat sich sein Honorar jedenfalls redlich verdient. Und ich bin eloquenter geworden – aber noch lange keine Lady. Bei dem Gedanken muss ich schmunzeln.

EPILOG

Nun wisst ihr also womit sich eure schnuckelige Amine die Zeit zwischen ihren Abenteuern vertreibt. Und über Adoras ersten Abend mit mir erzähl ich euch ein andermal. Küsschen ihr Lieben!