EINS
Die Nachricht von Sarah trifft spät in der Nacht ein. Hauptsächlich ein Satz Koordinaten. Dazu ein kurzer Abschiedsgruß – „Pass auf dich auf!“. Den Rest der Nacht schlafe ich unruhig. Am frühen Morgen packe ich alles zusammen was ich für die Reise brauche. Es geht Richtung Osten – in die Rocky Mountains.
Am Zielort, den ich von Sarah erhalten habe ist auf den mir zugänglichen Karten exakt nichts eingezeichnet.Eine kurze Anreisebeschreibung habe ich auch erhalten. Mein TAP soll während meiner gesamten Abwesenheit ausgeschaltet bleiben. Eine beängstigende Vorstellung – offline für so lange Zeit. Doch ich vertraue Sarah.
Und im Notfall kann Sie mich – und nur sie – über andere Wege erreichen. Sollte eine dieser Notfalls-Nachrichten nicht eines von mehreren Codewörtern beinhalten werde ich spurlos vom Antlitz dieser Erde verschwinden. Auch dafür habe ich vorgesorgt.
Es gibt so viele mir liebe Leute denen ich noch einen letzten Abschiedsgruß schicken möchte – aber davon muss ich Abstand nehmen. Ich verlasse mein gewohntes Umfeld. Und je weniger Spuren ich hinterlasse desto besser.
– TAP offline –
ZWEI
Es tut gut Denver zu verlassen. Ich fahre auf dem Highway Richtung Osten. Verlasse den Highway, die Straßen werden schmaler. Ich folge den Anweisungen zur Anfahrt penibel. Mache dann schließlich Halt vor einem eher unscheinbaren Eingangstor, dahinter ein kaum einsehbares Anwesen. Ohne jemanden zu sehen sage ich laut meinen Namen.
Das Tor öffnet sich, der Weg ist frei. Kurze Zeit war ich versucht „Freund“ zu rufen statt „Amine“. Aber für Moria ist das hier definitiv zu fade. Irgendwie verlässt mich all die Anspannung und macht einer gewissen Erschöpfung Platz. Amine geht nun auf eine neuen Lebensabschnitt zu. Keine Partys mehr, kein ausschweifendes Leben. Nur mehr Langeweile.
Mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck parke ich mein Bike vor dem beeindruckenden (und langweiligen) Haupthaus des Anwesens, schreite erwartungsvoll zur Eingangstür und betätige den Türklopfer (geht es noch mehr retro?).
Als mir Joseph(ine) die Tür öffnet bleibt mir jedoch der Mund vor Staunen offen stehen. Joseph(ine), live, 3D und in Farbe, eingehüllt in eine schlichte und extrem elegante weiße Robe.
Joseph(ine) nutzt meine Verwirrung schamlos aus, umarmt mich und küsst mich so intensiv auf den Mund, dass mir die Knie weich werden. Und statt einer Begrüßung landen wir in ihrem Zimmer im Bett. Die nicht jugendfreien Details gibt’s auf Anfrage.
DREI
Einige Zeit später kommen wir dann doch dazu uns zu unterhalten. Es ist relativ simpel. Wenn ich zustimme wird sich mein Körper verwandeln. Das wird keine Installation von Cyberware sondern eine weitgehende organische Verwandlung. Danach gehöre ich zwar noch immer zur Familie Homo Sapiens (ha! als ob, meint am1n3). Aber nur mehr ungefähr. Mein Körper wird dann mein wahres Wesen widerspiegeln. Und ich bin wild entschlossen diesen Weg zu gehen.
Über die 100.000 Credits, die die Prozedur kostet, denke ich keine Sekunde nach. Nur vor den Schmerzen, die sich nicht komplett unterdrücken lassen werden, habe ich Angst. Und der langsame und und langwierige Heilungsprozess wird viel Kraft kosten. So lange Zeit ohne Sex auszukommen – das wird ein Horror! Aber zumindest habe ich Joseph(ine) in der Nähe.
Die Vorbereitungszeit vergeht so schnell wie ein Augenblick. Dann bin ich in einem rein weißen Raum auf einem Operationstisch fixiert (das klingt doch viel netter als „gefesselt“ – oder?). Über mir schweben Roboterarme, die sich nun langsam in Bewegung setzten. Mich aufschneiden, mein Körperinneres offenlegen. Kanülen durch meine Haut stoßen.
Und ich bin vollständig gelähmt, habe keine Kontrolle mehr über meine Motorik. Nur die Schmerzen dringen zu mir durch. Nicht in voller Stärke, das würde mich in den Wahnsinn treiben. Ich würde schreien, könnte ich. Aber auch das ist mir verwehrt. Nur ein stetiger Strom von Tränen fließt aus meinen Augen.
Und dann ist es wieder vorbei. Die Roboterarme ziehen sich zurück. Die klaffenden Wunden sind verschlossen. Das war nur die erste aus einer Reihe von Operationen. Eingehüllt in schneeweiße Verbände ist der Schmetterling wieder zu einer Larve geworden. Hat sich in seinen Kokon zurückgezogen. Erwartet die Verwandlung.
VIER
Die Zeit vergeht langsam aber stetig. Wochen, Monate voller Schmerzen, voller Hoffnung. Keine einzige Nachricht von Sarah. Mit dem äußeren verwandelt sich auch das Innere. Und schließlich stehe ich vor einem raumhohen Spiegel. Noch immer eingehüllt in Verbände. Joseph(ine) steht neben mir. Fängt langsam an die Verbände zu entfernen. Enthüllt meinen geschundenen Körper.
Schließlich stehe ich nackt vor dem Spiegel und kann keine Veränderung feststellen.
Meine Augen wechseln ihre Farbe auf Blutrot. Unbändiger Zorn und grenzenlose Enttäuschung wallen in mir hoch. Tränen laufen mir über das Gesicht – war alles umsonst? Nur Joseph(ine)s Umarmung bewahrt mich vor der Verzweiflung. Leise flüstert sie mir beruhigende Worte ins Ohr. Das schlimmste ist überstanden. Ich muss nur noch lernen mit meiner neuen Wesenheit umzugehen.
Die nächsten Monate machen mir klar, dass ich mich wirklich grundlegend verändert habe. Nach und nach erlange ich Kontrolle über mich.
Ich kann mein Geschlecht und meine Statur nun – in Grenzen – frei wählen. Wer mich näher kennt wird immer Amine erkennen. Nur kann Amine nun ganz Frau sein. Ob als üppige, kurvige Femme Fatale, als zarteres Girlie oder sehr androgyn. Und Amin gibt es natürlich auch noch. Mit dem fein definierten Körper und auf Wunsch auch mit athletischerem Aussehen. Erlaubt ist was gefällt – und ich gefalle mir in allen Varianten. Schade, dass ich mich nicht selber vernaschen kann.
FÜNF
Joseph(ine) hat gerufen und sie sind gekommen. Ich stehe in der Mitte eines sonnendurchfluteten Raums. Im Kreis um mich herum wunderschöne Wesen in weißen Roben. Ein langer Augenblick feierlicher Stille. Ein simples Aufnahmeritual in die „Runde der Geschwister“. Ein lupenreiner aber absichtsloser Geheimbund, der keine Agenda verfolgt. Nur die Verbundenheit in der Gemeinschaft ist wichtig. Niemandem darf ich von dieser Zusammenkunft erzählen – nur Sarah ist eingeweiht.
Joseph(ine) darf mich aufnehmen. Ein simples „Sei in unserer Mitte willkommen Amine!“. Darauf eine innige Umarmung, zuerst von Joseph(ine), dann von allen anderen.
SECHS
Der Abschied fällt mir nicht leicht. Zu sehr habe ich mich an die Nähe von Joseph(ine) gewöhnt. Und auch das Leben auf dem Anwesen hat mich innere Ruhe finden lassen.
Doch Amines wahre Natur ruht nur eine Zeit lang. Ich will zurück nach Denver. Ich brauche das intensive Leben, Partys, geliebte Wesen und neue Freunde. Und vor allem etwas neues zum Anziehen.
Kurz vor Denver schalte ich mein TAP wieder ein. Meine Güte – wie lange werde ich brauchen um all die versäumten Nachrichten zu bearbeiten? Nur eine ist mir vorerst wichtig – die Nachricht von Sarah.
„Willkommen zurück mein Schmetterling! Verbringe deinen ersten Tag im neuen Leben mit mir!“.
Gibt es einen besseren Weg zurück ins Leben?